Philipp Hartmann hat einen Film gemacht, der sich fragt, warum einem die Zeit lang vorkommen kann, wo doch jeder weiß, dass wir alle länger tot als lebendig sind. »Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe« ist eine Collage, die aber nicht in einem assoziierenden Strom des Phantasierens aufgeht, sondern viele gebündelte Miniaturen anbietet, die eher von demselben Punkt aus gedacht zu sein scheinen. Manche dieser Miniaturen mögen einem lang vorkommen. Denn seine innere Logik trägt der Film nicht vor sich her, sondern vergräbt sie ganz tief in sich. Er hütet sie wie ein Geheimnis. Und er tut gut daran. Er nimmt Anekdoten, Spielereien, banale Beobachtungen und Spezialhumor und überhöht die durch und durch persönlichen Kinosplitter zu Bezugspunkten für den Betrachter, legt sie frei zur Bedeutungsaufladung. Dann ist da noch tiefes Entsetzen – vor dem Sterben, mehr als vor dem Tod, vor der Auflösung des Ichs, vor dem Vergessen.
Ein formalistischer Kniff, wie der, dass jede Minute des Films für ein Lebensjahr des Filmemachers steht (laut statistischen Erhebungen müsste Philip Hartmann 76 Jahre alt werden), dient im System Hartmann eher als Initialzündung, aber nicht als Antwort auf irgendwas. Am Ende kommt man aus dem Kino und wird sich eines entsetzlichen Phänomens gewiss: Rückblickend kommen einem diese 76 Minuten schon wieder sehr kurz vor. Und damit, fürchte ich, bereitet »Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe« seine Zuschauer auf einen Gedanken vor, der mit 76 Jahren, sofern es mit dem Denken dann noch geht, ganz ähnlich noch einmal auftauchen wird. (4,5 von 5 Sternen)
Jan-Eike Michaelis – http://www.affektblog.de/10-dokfilmwoche-hh/