Filmkritik von Jakob Hartmann

Philipp Hartmann erklärt uns in seinem Film-Essay Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe nicht,
was Zeit ist. Er lässt sie uns vielmehr spüren. Der Filmemacher widersteht der Versuchung, das
Thema entsprechend der Nachfrage nach Ratgebern zur >Entschleunigung< oder ähnlicher
zeitbedingter Modeansichten zu behandeln. Stattdessen vertraut er dem mündigen Zuschauer und
liefert Bilder und Ansichten, die uns zu uns selbst führen und die eigenen vielschichtigen
Erfahrungen der Zeit sinnlich nachvollziehen, sinnhaft werden lassen. An einer Stelle im Film
erfolgt die Nennung einer Liste von Dingen, die Zeitreisen in der eigenen Erinnerung auslösen
können. Hartmanns Film ist selbst ein solcher Katalysator für Zeitreisen.

Die Frau des Uhrmachers präsentiert uns schweigend eines der Dinge, die ihr verstorbener Mann ihr
hinterließ – eine Sanduhr, die zwei verschiedene Zeiten anzeigt. Die Versuche von
Alzheimer-Patienten, auf einem Testbogen eine bestimmte Uhrzeit korrekt einzuzeichnen, werden
flankiert von den Berichten über französische Revolutionäre, deren Freiheitsdrang sich 1830 u.a. in
der Zerstörung der Pariser Turmuhren entlädt. Ein Nachrichtensprecher nennt die juristischen
Stadien eines Menschen bis zur Erreichung der Volljährigkeit und ein Atomphysiker erläutert das
Paradoxon der künstlich erzeugten Schaltsekunde und manipuliert nebenbei versehentlich den
offiziellen Ablauf der Zeit. Inszenierte Sequenzen fügen sich in die dokumentarische Collage ein
und bieten – auf teils nachdenkliche, teils humoristische Weise – weiteren Stoff für das Nachsinnen
über die Zeit und ihr Vergehen im eigenen Leben.

Durch dieses Kaleidoskop von philosophischen, unterhaltsamen und v.a. sinnlichen Angeboten zur
Reflektion (grandios fotografiert von Helena Wittmann) führt die Erzählstimme des Filmemachers,
der mit dem Bezug auf die eigene Biographie und mit der Offenlegung seiner filmischen Mittel und
Motivation den Zuschauer unaufdringlich bei der Hand nimmt und zugleich zu eigenen Wegen
animiert. Der filmische Essay hält so auf dramaturgisch präzise und sensible Weise die Wage
zwischen dem notwendigen Erzeugen einer Identifikationsfigur und Erzählung und der produktiven
Irritation, Konfrontation und Aktivierung des Zuschauers. So dass der Film – wie es Merkmal und
Ziel jeder guten Kunst sein sollte – im Zusammenspiel mit seinen Rezipienten eine Bedeutung
jenseits der Fragen seiner unmittelbaren Autorschaft und historischen Verortung erhält. Diese
qualitätsvolle, verantwortungsvolle und nicht zuletzt sehr sympathische filmerische Haltung
komplettiert Hartmann durch immer wieder eingestreute Reflektionen über das Medium Film und
seine (gängigen) Regeln. Die zeitbasierte Kunstform Film bietet hier somit nicht nur ein
naturgegeben flüchtiges Phänomen sinnlich zur Anschauung und Erfahrung dar, sondern nimmt sich
dieses zum Anlass, mit dem Sinnieren über die Zeit zugleich die eigene Medialität zu hinterfragen,
mithin die Bedingungen künstlerischer Selbstentäußerung allgemein. Eine dokumentarische,
künstlerische wie auch gleichermaßen philosophische Glanzleistung.